EINTUNKT 2. Leseprobe

KAPITEL 4 _ ICH KANN ES IMMER NOCH NICHT GLAUBEN

 

Um 1900 zerstörte die Reblaus fast den ganzen Weinbau in Europa und wurde zu einem gefürchteten Schädling. In ihrer ursprünglichen Heimat Nordamerika blieb die Reblaus hingegen lange Zeit völlig unbeachtet, weil die dort heimischen Reben dagegen resistent sind. Diese sind evolutionär in der Lage, die Einstichstellen der Reblaus an den Wurzeln mit Korkgewebe zu verschließen, bevor es zu größeren Schäden kommt.

 

»Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ihr wieder hier seid«, sagte Vera wohl zum sechsten oder siebenten Mal an diesem Abend. »Was für eine Freude!«

Vera, Eva und Finz hatten beschlossen, auf das Wiedersehen anzustoßen, und befanden sich nun im Il Sapore in Oberwart, einer beliebten italienischen Weinbar an

der Hauptstraße.

Katrin, die Besitzerin, schien die Freude zu teilen. »Welcome home. Das geht aufs Haus«, sagte sie und stellte eine Runde Prosecco auf den Tisch.

»Man muss nur ein paar Monate weg sein, und die Menschen in Oberwart lieben einen«, feixte Finz.

»Erstens wart ihr nicht ein paar Monate weg, sondern über zwei Jahre, und zweitens haben dich die Frauen immer schon geliebt«, korrigierte ihn Vera. Finz sah zwar objektiv betrachtet durchschnittlich aus, aber er hatte dieses gewisse Etwas. Außerdem – glaubte man den Oberwarter Buschtrommeln – war er ein wahnsinnig aufmerksamer Liebhaber. Gut für Eva, dachte Vera. Die hatte eh lange genug unter ihrem chauvinistischen und brutalen Ex-Mann gelitten. Wie glücklich ihre Freundin aussah!

Eva war immer schon hübsch gewesen, Typ Schneewittchen. Aber sie hatte früher immer so einen gehetzten, ängstlichen Blick gehabt. Damals, als Vera sie kennengelernt hatte. Eva, die Zuagroaste, und Vera, die Rückkehrerin, hatten. einander sofort sympathisch gefunden, als sie sich vor drei Jahren zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Über ihre beiden Töchter, die dieselbe Tanzschule besuchten, hatten sie sich kennengelernt. Die beiden Frauen teilten ein ähnliches Schicksal. Beide hatten damals ihr altes Leben mehr oder weniger freiwillig hinter sich lassen müssen.

Eva, weil ihr Ex-Mann, der in einen Bauskandal verwickelt gewesen war, beschlossen hatte, dass es klüger wäre, seine Zelte im Nordburgenland abzubrechen und im Südburgenland neu aufzuschlagen. Dort, wo ihm – so glaubte er – sein mieser Ruf nicht vorauseilte. Vera, weil sie ihren Job in Wien als Redakteurin bei der Fachzeitschrift »Lust aufs Land« verloren hatte und sich die teure Miete in der Großstadt nicht mehr hatte leisten können. Als Allein +erzieherin war ihr gar nichts anderes übrig geblieben, als ins Haus der verstorbenen Urlioma zu ziehen und das anfangs noch äußerst schlecht bezahlte Jobangebot als freie Mitarbeiterin beim »Burgenländischen Boten« anzunehmen.

Inzwischen war viel Wasser die Donau – oder besser gesagt die Pinka – hinuntergeflossen. Vera hatte sich in der Redaktion hochgearbeitet und neue Freundinnen im Klub der Grünen Daumen gefunden. Und Eva, die war mit ihrer neuen Liebe Finz und ihrer Tochter Carla für einige Zeit nach Südamerika gegangen.

»Wie war es in Brasilien?«, fragte Vera.

»Toll«, sagte Finz. »Ich habe weiter an der Terra Preta forschen können. Die Schwarze Erde bietet großes Potenzial bei der Bekämpfung des Klimawandels.«

Vera wusste um Finz’ Leidenschaft für die ewig fruchtbare Erde, die Forscher im Amazonasbecken gefunden hatten. Indigene Ureinwohner hatten diese Erde aus Holz und Pflanzenkohle, Tonscherben, Knochen, Fischgräten und tierischen und menschlichen Fäkalien über Jahrhunderte geschaffen, um den nährstoffarmen Boden am Amazonas fruchtbar zu machen. Finz besaß im Südburgenland ein Unternehmen, das schon vor ein paar Jahren begonnen hatte, diese Technik zu kopieren. Inkaerde hieß die Firma, die in seiner Abwesenheit von seinem Partner weitergeführt worden war.

»Ich bin mit ganz vielen neuen Ideen zurückgekommen«, sagte Finz. »Das Thema Mikroorganismen zur Bodenaktivierung beschäftigt mich momentan ganz stark.«

»Oh, kann ich dich dazu interviewen?« Als Lokaljournalistin war Vera immer auf der Suche nach neuen Storys für den »Burgenländischen Boten«.

»Ja klar, aber da haben wir noch einen aktuellen Aufhänger für dich«, wandte Eva ein.

»Und der wäre?«

»Komposttoiletten.«

»Komposttoiletten?«

»Ja, Komposttoiletten«, bekräftigte Finz. »Ich bin da in ein neues Business eingestiegen. Komposttoiletten für Festivals. Komposttoiletten arbeiten ohne Chemie und Wasser. Anstatt eine Wasserspülung zu betätigen, schüttest du einfach einen Becher Sägespäne über deine Notdurft. Das ist quasi die Basis für die Kompostierung. Zusammen mit dem Toilettenpapier und dem Fäkalienanteil entsteht Biomasse, die wenig fruchtbare Böden verbessern kann.«

»Stinken solche Klos nicht ganz schrecklich?«, wollte Vera wissen und rümpfte die Nase.

»Ganz und gar nicht. Es riecht total gut nach Holz und Sägespänen. Du kannst dich nächstes Wochenende in Bildein beim picture on selbst davon überzeugen«, lachte Eva.

»Finz wird dort seine Komposttoiletten aufstellen. Du bist doch dort, oder?«

»Natürlich bin ich dort!«, sagte Vera. »Nie würde ich mir das entgehen lassen. Ich habe gehört, Patti Smith spielt am Samstag. Sie ist der noch geheim gehaltene Headliner.«

Ein seliges Grinsen ging über ihr Gesicht, als sie an das kleinste und beliebteste Musik-Festival des Burgenlandes dachte.

Das picture on festival im 350-Seelen-Dorf Bildein war jedes Jahr Garant für einmalige Gemütlichkeit, sensationelle Stimmung und einen absolut durchmischten Musikstilmix,

der von Blasmusik bis Punk-Rock, von Rap bis Reggae, von Independent bis Jazz reichte.

picture on, das war Campen und Chillen, Rocken und Relaxen. picture on – das beinhaltete den legendären »musikalischen Dorfspaziergang« zu den schönsten Flecken

des Dörfchens. Und es beinhaltete das Literaturprojekt »Anschiffen«, eine Lesung auf einem Floß, bei der sich die Literaten, gefolgt von ihren Zuhörern, gerne auch

einmal in die Fluten des Flusses Pinka stürzten. picture on, das war das Festival, bei dem Pinkarocker Pinkawasser tranken. Nein, nicht das aus dem Fluss. Pinkawasser war

der Codename für einen Uhudlerspritzer – ein Gemisch aus Uhudlerwein und Sodawasser.

»Katrin, ich hab Lust auf ein Glas Uhudler«, sagte Vera.

»Wollt ihr auch? Dann bestell ich noch eine Runde.«

Die Tür ging auf, und zwei Männer und eine Frau betraten das kleine Lokal. Sie gingen vorbei an Vera, Finz und Eva, die am Fenster saßen, hinauf auf die Galerie und nahmen an der kleinen Bar Platz.

»Ist das nicht die Frau, die vorher beim Gartenklubtreffen dabei war?«, fragte Eva.

»Ja«, sagte Vera und nickte den Ankömmlingen kurz zu. Die Blonde erwiderte den Gruß ebenso knapp. Dann wandte sich Vera zurück an Eva. »Das ist die Pomper Betty.

Du hast sie noch nicht kennengelernt. Sie ist dem Klub beigetreten,

als ihr schon in Brasilien wart. Sie ist Bestatterin.«

»Bestatterin? Das klingt spannend. Dicke Freundinnen seid ihr aber keine«, bemerkte Finz.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Kein Bussi, Bussi, kein Hallo, Schatzi«, feixte dieser.

Vera zuckte nur mit den Achseln.

»Und wer sind die zwei Typen, mit denen sie da ist?«, wollte Finz wissen.

Vera sah kurz zur Galerie. Bettys und Veras Blicke kreuzten sich dabei. Schnell drehte sie den Kopf weg.

»Der neben ihr, der mit dem blauen Hemd und dem leicht gewellten Haar, ist ihr Freund, der Hacki, der hat ein Weingut am Csaterberg. Eigentlich heißt er Leo, Leo Liszt. Er hat in den letzten beiden Jahren einige Medaillen gewonnen mit seinen Weinen. Und der andere …«, sie schaute noch einmal hinauf und musterte den zweiten Mann verstohlen. Als Journalistin war sie es gewohnt, Menschen blitzschnell zu scannen und mit Worten zu beschreiben. Hätte sie über diesen Mann geschrieben, wäre die Beschreibung wie folgt gewesen: Er war Mitte 50, schlank und hatte einen Bartschatten, der ihn verwegen wirken ließ. Sein Haar war so kurz geschnitten, dass man die Kopfhaut durchschimmern sah. Wahrscheinlich ließ er es so kurz schneiden, weil es nicht mehr so dicht war, wie er es sich wünschte. Der Mann trug ein schwarzes Leinenhemd, dessen Ärmel er tagsüber wohl aufgekrempelt gehabt hatte, denn der Stoff von der Manschette bis zu den Ellenbogen war verknittert. Kein Ehering. Aber das sagte heutzutage gar nichts. Ein Siegelring am kleinen Finger. Suchende Augen, rastloser Blick. Der Mann hatte eine außerordentliche Präsenz. Bedrohlich oder anziehend? Vera konnte sich nicht auf ein Urteil festlegen.

Sie wandte wieder den Kopf zu ihren Freunden. »Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nie hier gesehen.« Einen Moment später ging wieder die Tür auf. Eine Blondine in Skinny Jeans und grauem ärmellosem T-Shirt betrat das kleine Lokal und sah sich suchend um. Dann drehte sie auf dem Absatz um und war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war.

Eva und Vera, die mit dem Rücken zum Eingang auf ihren Barhockern lümmelten, hatten die Frau gar nicht gesehen. Dafür aber Finz.

»Da hat gerade eine ihre Nase hier reingesteckt. Ich glaub, das war …«

»Was? Wer?« Vera drehte sich um.

»Die hat ausgesehen wie diese Sängerin … Die mal diesen einen Hit hatte früher. Die spielt sicher in Bildein …«

»Patti Smith?«, fragte Vera hoffnungsvoll.

»Nein, nicht Patti Smith … irgendwas mit A.«

»Alanis Morissette?«, fragte Eva.

»Nein«, Finz schüttelte den Kopf. »Nicht sooo bekannt.

Aber das Lied kennt ihr sicher. Irgendwas mit fool …«

»Two Times a Fool!«, riefen Vera und Eva wie aus der Pistole geschossen.

»Ja, Two Times a Fool«, bestätigte Finz. »Ich glaub, so hat das geheißen. So eine Liebeskummer-Schnulze.«

»Das ist keine Schnulze. Das ist eine der schönsten Rockballaden aller Zeiten«, widersprach Eva.

»Wie du meinst, mein Engel«, sagte Finz und strich seiner Freundin über den Oberschenkel.

Veras journalistische Neugier war geweckt. Sie stürmte aus dem Lokal und wandte sich an die beiden Stammgäste, die draußen rauchten. »Die Frau, die da gerade rein- und gleich wieder rausgegangen ist, habt ihr die gesehen? Wir glauben, dass das Alex Woods war. Die Sängerin!«

Einer der Raucher, ein dünner Mann mit Nickelbrille, dämpfte seine Zigarette aus. »Wir haben uns auch grad über sie unterhalten. Der Flo«, er deutete auf seinen Begleiter, »glaubt auch, dass sie das war. Laut dem neuen Line-up spielt sie in Bildein am Samstag auf der Apfelbühne.

Two times an idiot …«

»Two Times a Fool«, korrigierte Vera, bevor sie wieder ins Lokal ging.

»Voll arg. Die sagen auch, das war Alex Woods«, berichtete sie Eva und Finz.

Auch auf der Galerie war das Auftauchen der Frau nicht unbemerkt geblieben. »Haltet mich nicht für verrückt, aber ich glaube, dass ich gerade Alex Woods beim Eingang gesehen habe«, sagte der Mann, den Vera so aufmerksam gemustert hatte, zu Hacki und Betty.

Er lachte und nahm einen Schluck aus seinem Rotweinglas. »Dieser Cuvée von dir ist wirklich unglaublich, Hacki. Der wird im Export auch voll einschlagen.«

»Du hast dich nicht getäuscht, das war sie«, sagte Betty etwas steif.

»Aber das kann doch gar nicht sein!« Der Mann wischte sich einen imaginären Krümel vom Mundwinkel. »Was würde Alex Woods an einem Mittwochabend in Oberwart machen?«

»Alex ist Bettys Schwester«, erklärte Hacki.

»Deine Schwester?« Der Mann blickte Betty interessiert an. »Echt jetzt? Ich wusste, dass sie Österreicherin ist, aber Oberwart?«

»Hackerberg, wir sind aus Hackerberg. Aber waren lange drüben. Unsere halbe Familie lebt in den USA.«

»Ich hab mal gelesen, dass mehr Burgenländer in den USA leben als im Burgenland«, bemerkte Hacki.

»Und was macht deine Schwester hier?«, nahm sein Begleiter den Gesprächsfaden wieder auf.

»Sie springt last minute für eine andere Band ein. Beim picture on, das ist so ein Festival in Bildein.«

»Ah, verstehe.« Der Mann strich mit dem Finger geistesabwesend über den Rand seines Weinglases und betrachtete dann die Schlieren, die der Wein im Inneren

an der Glaswand hinterlassen hatte.

»Warum ist sie gleich wieder gegangen und nicht zu uns raufgekommen?«, wunderte er sich.

»Wahrscheinlich ist sie immer noch sauer auf mich. Ich habe gestern unser Schwein auf sie gehetzt«, sagte Betty trocken.

Der Mann lachte. Es war ein höfliches Lachen. So wie man eben lacht, wenn man glaubt, jemand macht einen Witz, aber den Witz nicht versteht.

»Kennst du sie?«, fragte Hacki.

Der Mann griff zur Flasche, betrachtete kurz das Etikett und den Löwen, der darauf abgebildet war, und schenkte dann zuerst seinen Begleitern und schlussendlich sich selbst nach. »Ich bin Fan der ersten Stunde.«