Hamdraht / LESEPROBE

Mathilde bemüht sich

Mathilde nahm den hauchdünn geschnittenen Rohschinken vom Zickentaler Moorochsen aus dem folierten Papier. Sie hob mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger jedes Blatt genau in der Mitte hoch, sodass die Ränder herunterhingen, und knüllte es dann mit einer leicht drehenden Bewegung locker zusammen. Der Schinken roch gut, rauchig, würzig. Und das Ergebnis sah aus wie eine rosafarbene bauschige Blüte. Eine Schinkenblume nach der anderen dekorierte sie kreisförmig auf dem grauen Steingutteller. Rundherum arrangierte sie fein geschnittene Paprikaringe, Paradeiserscheiben und winzige Radieschen. Mathilde hatte beschlossen, sich mehr Mühe zu geben. Nicht nur mit dem Rohschinken, sondern auch mit dem Gerhard. 

Mathilde wusste, dass sie das war, was Männer im Dorfwirtshaus eine keifate Oide nannten. Sie konnte einfach nicht den Mund halten, wenn sie etwas störte. Und am Gerhard störte sie jede Menge. Dass er so schlampert war, dass er in den Tag hinein lebte. Dass er nichts von den Dingen sah, die im Haus zu tun waren. Wenn der Abfluss verstopft war, die Thermenwartung anstand oder die Mistkübel abgeholt wurden, war es immer Mathilde, die sich um alles kümmerte. War sie in der Arbeit und konnte die Termine nicht wahrnehmen, erinnerte sie den Gerhard daran. Nachdrücklich, oft und zumeist auch in scharfem Ton, weil sonst passierte ja nichts.

Im Bett passierte auch schon lange nichts. Sie wusste schon gar nicht mehr, wann sie und der Gerhard das letzte Mal Sex gehabt hatten. Vor acht Monaten? Nein, eher vor neun. Mathilde hatte zweimal die Initiative ergriffen und war beide Male abgeblitzt. Danach war ihr ohnehin nicht stark ausgebildetes weibliches Ego so erschüttert gewesen, dass sie das Thema ad acta gelegt hatte. Vielleicht war sie dem Gerhard ja mittlerweile einfach zu dick geworden. Sie hatte immer schon Probleme mit ihrer rundlichen Figur gehabt. 

Sie steckte sich ein Stück Schinken in den Mund. Schinken war in der Paleo-Diät erlaubt. Mathilde war nicht nur Köchin, sie war auch Diät-Expertin. Sie kannte alle Programme von der Hollywooddiät bis zum Teilfasten. Dann würde sie heute eben Paleo machen. 

Mathilde wusste genau, wann sie ihre erste Diät gemacht hatte. Mit zwölf Jahren, nachdem sie beim Schwimmunterricht bemerkt hatte, dass ihr Bauch viel weiter rausstand als der der Klassenkolleginnen. Die Diätanleitung aus einer Jugendzeitschrift für Mädchen basierte auf reinem Kalorienzählen. Ziel war es, unter 1800 Kalorien zu bleiben. Mathilde hatte in der Früh zwei hartgekochte Eier (156 Kalorien) gegessen, zu Mittag einen Kopfsalat ohne Dressing (56 Kalorien) und am Abend eine große Tafel Trauben Nussschokolade (1470 Kalorien). Obwohl sie mathematisch ganz klar unter dem gesetzten Limit geblieben war, hatte sie kein Gramm abgenommen. Mathilde löste noch ein Stück Schinken aus dem Papier. Es erschien ihr zu unregelmäßig, um daraus eine schöne Rose drehen zu können. Also brachte sie es zum Verschwinden, indem sie es rasch aufaß.

Sie wusste genau, warum sie dick war. Es lag an ihrer Kindheit. An diesem verdammten Lángosstand ihrer Eltern. 

Der Lángos war den Ungarn und Burgenländern das, was für den Wiener die Burenwurst war und für den Amerikaner der Hot Dog. Bei dem beliebten Snack handelt es sich um eine Germteigflade, die erst in Fett frittiert und traditionell mit reichlich Sauerrahm und geriebenem Käse belegt wird. So kommt ein klassischer Lángos schnell mal auf 800 Kalorien.

Am Lángosstand von Mathildes Eltern gab es den Lángos pur mit oder ohne Knoblauchöl, aber auch noch in anderen hochkalorischen Varianten. Es gab den Toastlángos, bei dem Schinken und Käse eingebacken wurden. Es gab Debreziner Lángos – da wurde eine scharfe Wurst mit Lángosteig umhüllt, bevor alles in die Friteuse kam. Und der absolute Overkill, sowohl was den Fettgehalt als auch die Kalorienanzahl anbelangte, war der Käsekrainerlángos. 

Der Lángosstand von Mathildes Eltern hatte Räder, lange bevor das Wort „Food-Truck“ erfunden wurde. Er war ein umgebauter Wohnwagen, den man überall dort hinbringen konnte, wo Kundschaft zu finden war. Die beste Kundschaft war die, die vor dem Saufen eine „gscheite Unterlage“ anstrebte oder im Vollrausch Lust auf etwas Deftiges bekamen.

Also schleppte Mathildes Vater den Lángos Stand überall dorthin, wo gerne und viel gesoffen wurde: Zeltfeste, Feuerwehrfeste, Volksfeste der Parteien, Ausstellungen, Messen, Märkte, Kirtage. 

Die Eltern waren stolz darauf, dass ihr Lángosteig selbstgemacht war. Mathilde sah ihrem Vater gerne zu, wie er den Teig vorbereitete. Wie er aus Germ, Milch und etwas Mehl ein Dampfl machte und dieses dann mit Mehl und Milch zu einem hellen Brotteig verknetete. Wie er mit seinen großen Händen kleine Teigstücke abriss, zu Kugeln formen und mit der Hand zu Fladen presste und diese mit einem scharfen Messer mehrfach einritze. Aus logistischen Gründen fror er immer einen Teil der Teiglinge ein. Aber Mathilde schmeckten die Lángos am besten, wenn der Teig frisch in die Friteuse kam. Das Ergebnis war dann eine goldbraune fettgebackene Flade, die außen knusprig und innen weich und flaumig war. 

Der Vater und die Mutter waren ein gutes Team. Der Vater war ein Angehöriger der ungarischsprachigen Minderheit im Südburgenland, hieß Bela und war ein ruhiger Mann mit einem imposanten Auftreten, einem imposanten Schnurrbart und einem noch imposanteren Bauch. Die Mutter, Elisabeth, war knapp 1,60 cm groß, kugelrund und sprühte vor Energie. Elisabeth war bekannt für ihren Schmäh und ihre Schlagfertigkeit. „Wenn die Lángos Liesl amoi stirbt, muast dera ihre Goschn no extra daschlogn“, sagten die Leute.

Die Lángos Liesl konnte mit ihrer resoluten Art bsoffene Streithansl in kürzester Zeit zur Räson rufen. Sie richtete jedem das Gstell vire, der ihre Regeln nicht befolgte. Die Regeln waren Erstens: Keine Streitereien oder Schlägereien vor dem Lángossstand. Zweitens: keine politischen Diskussionen, weil diese unwillkürlich zu Streitereien und Schlägereien führten. Drittens: Keine Papierln, Servietten oder Dosen auf den Boden werfen. Und viertens nicht in der Fettn irgendwo im Umkreis von 100 Metern hinbrunzen oder hinspeibn.   

Einmal hatte ein Besoffener die Hose heruntergezogen, um in die Büsche neben dem Lángosstand zu urinieren. Da war die Lángos Liesl aus dem Wagen gestürmt und hatte ihm den Fritierkorb, der gerade noch im heißen Fett gehangen war, gegen den nackten Hintern geknallt. Das Gittermuster blieb dem Mann als Branding am Arsch für immer erhalten. Und die Lángos Liesl wurde nach dieser Tat im Bezirk zur offiziellen Respektsperson und zur lebenden Legende. 

Mathilde half von klein auf nach der Schule im Lángosstand mit. Sie lernte von ihrem Vater, wie man Lángos zubereitete und von der Mutter, wie man diese an den Mann oder an die Frau brachte. Das Trinkgeld, dass sie dafür von den Kunden bekam, investierte sie erst in Comics und Naschzeug, später in CDs und Make-up. Bis auf die Tatsache, dass Mathilde sich immer zu dick fühlte - ein Umstand, den die noch dickeren Eltern als Unsinn abtaten - war die Welt für sie in Ordnung. 

Doch dann kam die Inform 1998 und alles änderte sich. Mathilde war gerade 15 geworden. Die Inform war die größte Landwirtschaftsausstellung des Burgenlandes und gleichzeitig ein gesellschaftliches Großereignis. Es gab ein Weinzelt, in dem regionale Weine in Gläsern, die mit einem Muster aus grünen Weinranken verziert waren, angeboten wurden. Es gab ein Bierzelt, in dem Volksmusikgruppen auftraten. Es gab ein Diskozelt für die Jungen. Und es gab einen Vergnügungspark, in dem sich alle trafen. Dort, zwischen Autodrom, Maiskolbenbrater, Zuckerwattespinner, Schießstand und Kettenkarussell stand auch der Lángosstand von Mathildes Eltern. Weil die Inform 10 Tage lang fast rund um die Uhr lief, teilte sich die Familie die Schichten auf. Mathilde arbeitete von 9 Uhr-15 Uhr, die Mutter von 15 Uhr -21 Uhr und der Vater von 21 Uhr – 4 Uhr früh. Mathildes Schwester Caro war damals noch zu klein um mitzuhelfen, deshalb blieb sie daheim bei der Oma.

Mathilde lief nach ihren Dienst immer kurz nach Hause, stellte sich unter die Dusche, um den Fritierölgeruch und den Knoblauchgestank loszuwerden, zog sich um und fuhr dann zurück auf die Inform, um ihre Freundinnen zu treffen. Freund hatte sie zu ihrem großen Bedauern immer noch keinen. Aber es gab einige, die ihr gefielen und wenn man jeden Tag stundenlang auf dem Informgelände im Kreis flanierte, war die Chance, einen von ihnen zu treffen, recht hoch. 

Der Bursche, der Mathilde am besten gefiel, hieß Ronny und sah aus wie Elvis Presley. Er hatte eine Haartolle, trug karierte Hemden mit abgeschnittenen Ärmeln und lange spitze Cowboystiefel. In den Jugendmagazinen, die Mathilde las, wurde dieser Stil Rockabilly genannt und die Stilcodes erklärt. Mathilde kaufte sich ein T-Shirt mit Ankermotiv, trug einen geschwungenen Lidstrich auf und knotete sich ein getupftes Tuch in den Pferdeschwanz. Alles in der Hoffnung, Ronny würde sie auf der Inform als Seelenverwandte erkennen.

Am ersten Informwochende lief Mathilde Ronny dreimal über dem Weg. Beim dritten Mal bildete sie sich ein, er hätte ihr zugezwinkert. Vielleicht hatte er aber auch nur Rauch ins Auge bekommen. 

Bei ihren Runden mit ihren Freundinnen kam Mathilde auch immer wieder am elterlichen Lángosstand vorbei. „Schau das ist der Tagada Adi, der isst aber oft Lángos bei euch“, sagte eine.

Mathilde stutzte, als sie den kleinen dünnen, braungebrannten Mann mit seinen halblangen schwarzgefärbten Haaren und seinem Cowboyhut aus Leder am Lángosstand lungern sah. Vor allem, als sie registrierte, mit welch hungrigem Blick dieser ihre Mutter anschaute.

Jeder auf der Inform kannte den Tagada Adi. Das Tagada war das beliebteste Fahrgeschäft im Vergnügungspark. Eine Scheibe mit einer durchgehenden Sitzbank am Rand. Die Scheibe drehte sich nicht nur, sondern bewegte sich mittels Druckluft auch noch ständig auf und ab.

Der Tagada Adi, der das Fahrgeschäft betrieb, saß in einem kleinen Hütterl mit einem Schiebefenster aus Plastik , das nicht größer war als ein Dixie-Klo. „Auf geht’s, Chips bitte an der Kassa lösen“, rief er und „Auf ein Neues! Los einsteigen junge Dame, das Gefühl von Freiheit wartet!“ . Waren genug Kunden an Bord, startete er das Fahrwerk mit  einem lauten „Jetzt geht’s rund“ und ließ die Drehscheibe anfahren und dann immer wilder tanzen. Unerfahrene Tagada Benutzer blieben sitzen und klammerten sich die ganze Zeit verzweifelt an die Haltestange hinter ihnen, während ihre Steißbeine durch die wilden Hopser des Gefährts ein ums andere Mal geprellt wurden. Hübsche Mädels wurden vom Tagada Adi besonders durchgeschüttelt. Ihr theatralisches Geschrei war Musik in seinen Ohren. Aber die coolen Kids standen auf, gingen in die Mitte des Fahrwerks, wo man die Hopser am wenigsten spürte, und versuchten, mit weit ausgebreiteten Armen eins mit der Scheibe zu werden. 

Die Mathilde mochte den Tagada Adi nicht, weil sie ihn boshaft fand. Er schien es zu genießen, wenn seine Fahrgäste Angst bekamen oder die Gesichter schmerzverzerrt verzogen. Wenn eine Person dann endlich stürzte und vielleicht auch noch zu kreischen begann, schickte der Tagada Adi immer ein schadenfrohes „Hoppala“ hinterher. Ihre Mutter schien die Abneigung aber nicht zu teilen. Die lachte immer wie ein Hutschpferd, wenn er zu ihr an den Stand kam. 

Dass mehr im Busch war als nur Sympathie, merkte Mathilde, als der Tagada Adi einmal vor ihren Augen das fettige Papier, in dem sein Lángos eingewickelt gewesen war, zusammenknüllte und direkt vor dem Stand auf den Boden warf. Denn das Ungeheuerliche passierte: Die Mutter reagierte nicht darauf. Sie schimpfte nicht mit dem Tagada Adi. Sie lachte nur blöd weiter. 

Dann kam der Tag in Mathildes Leben, der alles veränderte. Der letzte Tag der Inform, der traditionell mit einem Feuerwerk endete. Statistisch gesehen regnete es am letzten Tag der Inform meistens. Aber an in diesem Jahr schien die Sonne.  

Ein Glückstag, dachte Mathilde und das war es dann auch. Denn der Ronny war wieder da. Er stand beim Stand vom Kaufhaus Polster und trank einen Spritzer. Mathilde und ihre Freundin stellten sich einen Meter daneben hin. Mathilde trug eine Caprihose, eine Leopardenbluse und rote Lippen und dann passierte das Unglaubliche, der Ronny beachtete sie. Er fragte, ob sie Feuer hätte. Mathilde zückte mit zitternden Händen die Streichhölzer mit dem Werbeaufdruck des Lángos-Stands. Und eine Minute später waren sie im Gespräch. 

Der Ronny hatte schon glasige Augen und lallte ein bisschen, aber Mathilde war dennoch im Glück. Als das Feuerwerk begann, nahm er sie an der Hand und rannte mit ihr los. Da hinter dem Zelt sieht man mehr, sagte er. Das war natürlich eine Lüge. Das Feuerwerk war ja am Himmel oben, das sah man von überall am Informgelände. Aber Mathilde ließ sich gerne hinter das Zelt ziehen. Bis sie sah, dass da schon jemand war. Ein kopulierendes Pärchen. Aber was noch viel schockierender war: Der Mann hatte einen ledernen Cowboyhut und die Frau war kugelrund. Mathilde ließ den Ronny stehen und rannte davon. Es knallte und blitzte, während sie nach Hause lief. Rote, grüne, blaue und gelbe Leuchtkörper explodierten laut knallend über ihr. Es regnete Sterne, der Himmel glühte. Mathilde nahm es gar nicht wahr. Sie dachte nur an die schrecklichen Bilder im Kopf. Ihre Mutter und der Tagada Adi. Der 6.9.1998 war nicht nur der letzte Tag der Inform, es war auch der Tag, an dem Mathilde ihr kindliches Urvertrauen verlor. Sie konnte ihrer Mutter nach diesem Tag nie wieder in die Augen schauen und dem Vater auch nicht. Eigentlich hätte Mathilde am Montag mit einer neuen Schule beginnen sollen. Sie war für den Tourismuszweig der HBLA in Oberwart angemeldet. Stattdessen änderte sie ihre Pläne und nahm eine Lehrstelle zur Köchin in einem Wellnesshotel in Tirol an. Nur weit weg von daheim sein. Alles vergessen. Am Tag vor ihrer Abreise färbte sie sich die Haare schwarz und fuhr nach Wien in ein Vintage Geschäft in der Neubaugasse, um neue Kleider kaufen. Das gesamte Geld, das sie im Sommer verdient hatte, investierte sie in neue Garderobe: ein Polkadot Kleid mit weitschwingendem Tellerrock, eine Bluse im Vichy-Karo, eine schwarze Corsage im Burlesque Style, echte Nylons mit Naht, weiße Pumps im Fifties Look und Lockenwickler. Die alte Mathilde ließ sie am Lángosstand zurück. Sie erfand sich neu. 

Mathilde wusch sich die Hände, fuhr dann verstohlen hinten in ihren Hosenbund und zupfte ihren Hüftstring im Vintage Style zurecht. Sie hatte das kirschrote Spitzending online im Sale gekauft. „Wenn etwas im Sale landet, hat das einen Grund“, hatte ihre Mutter immer gepredigt. Der Grund bei diesem Teil war, dass es kratzte und in der Poritze unangenehm einschnitt. Oder sie war einfach zu alt und zu fett für solche Mode. 

„Ist heute ein besonderer Tag?“ Gerhard kam in die Küche geschlurft und beäugte den Teller mit den Schinkenrosen misstrauisch. Sein erster Gedanke war, dass er sicher Mathildes Geburtstag oder den Jahrestag vergessen hatte. Weil dann stand ihm jetzt ein Gekeife bevor. „Nein, ich dachte nur, ich mach es uns nett“, sagte Mathilde. „Auch, um den Auftrag zu feiern. Wie weit bist du da eigentlich?“ Sie hatte die Frage ganz freundlich und harmlos gestellt. Aber der Gerhard kannte sie zu gut. Er wusste, dass sie ihm auf den Zahn fühlte, weil sie nicht daran glaubte, dass er den Termin schaffen würde.

Er glaubte ja selber nicht daran, dass er den Termin schaffen würde. Er hatte immer noch keine zündende Idee für das Projekt. Nur vage Visionen.

„Ich dachte an einen Käfig, den man ins Wasser lässt, so einen, in dem man im Mittelalter die Bäcker ertränkt hat, wenn sie zu kleine Brotlaibe gebacken haben. Das hätte so was Sozialkritisches“, sagte er.

„Ich glaube nicht, dass ein Wellnesshotel ein Folter- und Mordwerkzeug ausstellen will“, sagte Mathilde stirnrunzelnd. Ein Stück Rohschinken hatte sich unangenehm zwischen ihren Backenzähnen festgesetzt. Sie versuchte es erfolglos mit der Zunge zu befreien. 

„Du verstehst das nicht“, sagte Gerhard. „Du bist eben keine Künstlerin.“

Er belegte ein Stück Schwarzbrot mit Schinken, legte ein Gurkerl drauf und biss hinein. Ein paar Brösel fielen auf sein orangekariertes Hemd und verloren sich optisch augenblicklich im Muster.

„Was soll das heißen, ich bin keine Künstlerin, ich bin Köchin. Kochen ist auch eine Kunst. Darum heißt es ja Kochkunst.“

„Willst du jetzt echt Kochen mit Bildhauerei vergleichen? Kochen ist Frauenarbeit, Hausarbeit von mir aus ein Handwerk, aber keine Kunst.“ Gerhard ging zum Kühlschrank, machte eine Dose Bier auf, leerte die Hälfte in einem Zug und rülpste dann hörbar.

„Und was ist mit der Haubengastronomie, all den Spitzenköchen?“, begehrte Mathilde auf.

„Das ist etwas anderes, das sind Männer“, feixte Gerhard, trank die Dose aus, zerknüllte diese und warf sie in den Mist.

„Die Dose gehört nicht in den Restmüll“, keifte Mathilde. 

Der Gerhard ignorierte die Bemerkung und machte sich noch eine Dose auf.

So viel also zum Thema harmonischen Mahlzeit, dachte sie, während sie mit Tränen in den Augen in der Lade des Esstischs nach einem Zahnstocher kramte. Am liebsten hätte sie dem Gerhard damit die Augen ausgestochen. Stattdessen bohrte sie in ihrem Zahnzwischenraum herum, bis das Zahnfleisch zu bluten begann. Es tat weh. Aber der Rohschinken steckte bombenfest. Der Schmerz machte sie noch wütender. 

„Und überhaupt was soll das heißen, Spitzenköche sind immer Männer? Du bist so ein chauvinistisches Arschloch“, brüllte sie. Ihre Zunge fühlte sich schon ganz aufgerieben an von dem Versuch, dieses blöde Schinkenstück herauszulösen. Sie fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger in den Mund und versuchte, den Rohschinken zu fassen und herauszuziehen. 

„Sexy“, sagte der Gerhard.

„Leck mich“, sagte Mathilde. 

Sie rannte ins Badezimmer und suchte nach der Zahnseide. Der scharfe Faden brachte das malträtierte Zahnfleisch noch mehr zum Bluten, aber endlich löste sich die Fleischfaser. Erleichterung erfasste sie, als der unangenehme Druck zwischen den Zähnen endlich nachließ. Ihr Zahnfleisch tat noch immer weh und fühlte sich wund an. 

Von wegen keine Künstlerin. Sie würde den Gerhard verlassen. Sie würde 10 Kilo abnehmen. Sie würde in die Stadt ziehen, eine Haube erkochen und dann würde sie zu malen beginnen. In ihrer Fantasie sah sich Mathilde in einem umgebauten Dachboden vor einer Leinwand stehen. An den Wänden lehnten Bilder, die sie gemalt hatte. Großartige, farbenprächtige Bilder. Bilder in denen Essen die Hauptrolle spielte. Pralle, violette Trauben, rosa Schinkenkeulen, goldgelbe Brotlaibe. In ihrer Fantasie trug sie mit Spitzen besetzte Shorts und ein Hemd, das mit Ölfarbe bespritzt war, und rauchte, während sie mit kritischem Blick die letzten Farbtupfer auf ihr fast vollendetes Meisterwerk pinselte. Die Stray Cats dröhnten aus den Boxen und es roch nach Kaffee und Croissants und Himbeermarmelade. Ein Bett gab es natürlich auch in ihrem soeben erfundenen Studioloft. Dort lag ihr neuer Liebhaber. Einer, der sie und ihre Kunst zu schätzen wusste. 

Mathilde nahm ihre Jacke und ging, ohne ein weiteres Wort zu Gerhard zu sagen, aus dem Haus. Als sie die Tür zuknallte, flog der selbstgeflochtene Türkranz aus Hagebuttenzweigen auf den Boden. Mathilde machte sich nicht die Mühe, diesen wegzuräumen.